Nestroy, Johann (1801-1862), Schriftsteller und Schauspieler

Nestroy Johann, Dramatiker und Schauspieler. * Wien, 7. 12. 1801; † Graz, 25. 5. 1862. Sohn eines Advokaten aus Komorau; absolv. 1810–13 das Akad. Gymn., 1813–16 das Schottengymn., 1817–22 die philosoph. Jgg. und das Jusstud. an der Univ. Wien. Teils aus finanziellen Gründen, teils aus Theaterleidenschaft brach er sein Stud. ab und debut. erfolgreich 1822 an der Wr. Hofoper als Sarastro. Ab 1823 Wanderjahre zwischen verschiedenen dt.sprachigen Bühnen (Amsterdam, Brünn, Graz, Preßburg und Lemberg), wobei N. seine später so zugkräftige Fähigkeit zum Extemporieren entwickelte und schrittweise den Übergang vom Baßbariton zum Sprechtheater, von ernsten zu kom., von hochdt. zu Dialektrollen vollzog. Ab 1831 hatte N. durch Carl (s. Bernbrunn) ein dauerndes Engagement am Theater a. d. Wien als Komiker und Bühnendichter. Hier entwickelte N. eine neuartige, oft ans Groteske reichende und provozierende Komik, die sich von der naiven, publikumsgenehmen „Gefühls- und Behaglichkeitskomik“ der damals gefeierten Volksschauspieler Schuster, Raimund und Scholz deutlich abhob. Geschickt ließ N. diese unterschiedlichen Auffassungen der kom. Figur in die zu bewußten Gegentypen gestalteten Rollen für sich und Scholz, der gleichfalls Mitgl. der Truppe Carls war, eingehen. Ab 1839 spielte N. auch in dem ebenfalls Carl gehörigen Leopoldstädter Theater (ab 1847 Carl-Theater), ab 1845 nur mehr dort. 1854 pachtete er das Carl-Theater, wobei die künstler. Leitung von C. Treumann, die administrative von seiner Lebensgefährtin, der Sängerin Marie Weiler, wahrgenommen wurde. Mit dieser lebte N., den seine Frau 1827 nach vierjähriger Ehe verlassen hatte, ab 1828 in Lebensgemeinschaft, ein Verhältnis, das seinem Hang zur bohemienhaften Zügellosigkeit entgegenwirkte, jedoch von Spannungen nicht frei war. 1860 trat er als Dir. zurück und übersiedelte nach Graz, wo er 1862 zum letzten Mal auftrat. N.s Komödiantentum, die Lösungsversuche seiner seel. Spannungen in der beißenden Ironie und die Verachtung der hohen literar. Zirkel zugunsten des unmittelbaren Kontakts mit einem breitgestreuten Publikum prägen die Eigenart seines Werkes. Laufend ergänzte er sein Repertoire (insgesamt 879 Rollen) und lieferte durchschnittlich drei Stücke pro Jahr, ohne sich allerdings um das Schicksal seiner Texte zu kümmern, was die spätere hist.-krit. Gesamtausgabe vor schwierigste Probleme stellen sollte. Innerhalb seines reichen Schaffens lassen sich drei von unterschiedlichen Werktypen gekennzeichnete Perioden ansetzen: Von den Anfängen bis 1838 dominierten „kolossalische“, aggressive Satiren, sog. Antimärchen, in denen sich N. allmählich von der Wr. Tradition des Zauberspiels und Besserungsstückes zugunsten eines stärkeren realist. und didakt. Akzents löst, um das Weltbild des Biedermeier parodist. zu negieren. Bekannteste Beispiele sind etwa nach dem Jahr der Erstaufführung: „Die Verbannung aus dem Zauberreiche“, 1828, „Der böse Geist Lumpazivagabundus“, 1833, „Die Familien Zwirn, Knieriem und Leim“, 1834, „Zu ebener Erde und erster Stock“, 1835, „Das Haus der Temperamente“, 1837. 1839–52 sind es zwei Gruppen, in denen die Aggression zum Spiel erhoben, die Komik zur iron. Lebensphil. entwickelt wird: Zunächst die aufgrund zumeist französ. Vaudevilles oder anderer fremder Vorlagen entstandene Form der Posse mit Gesang, daneben, bes. um 1848, eine Reihe melodramat. Intrigen und polit. Satiren, deren Aperçus den vorgestellten Einzelfall zur Gesellschaftskritik ausweiten, wie „Die verhängnisvolle Faschingsnacht“, 1839, „Der Talisman“, 1840, „Das Mädl aus der Vorstadt“, 1841, „Einen Jux will er sich machen“, 1842, „Nur Ruhe!“, 1843, „Liebesgeschichten und Heiratssachen“, 1843, „Der Zerrissene“, 1844, „Das Gewürzkrämerkleeblatt“, 1845, „Unverhofft“, 1845, „Der Unbedeutende“, 1846, „Freiheit in Krähwinkel“, 1848, „Höllenangst“, 1849, „Der alte Mann mit der jungen Frau“, verfaßt 1849, „Kampl“, 1852. 1853–62 entstanden entschärfte Satiren, z. Tl. Auftragsarbeiten, die bes. durch die für N. selbst geschriebenen kom. Rollen wirken: „Umsonst!“, 1857, „Frühere Verhältnisse“, 1862, „Häuptling Abendwind“, 1862. Eine Sonderstellung nehmen N.s literar. Parodien und Travestien ein, die aus einer beliebten Gattung der Wr. Volkskomödie zum Instrument iron. Enthüllung weiterentwickelt wurden, um mit unterschiedlicher Treffsicherheit die pathet. Hohlheit zeitgenöss. Erfolgsstücke anzuprangern (z. B. „Robert der Teuxel“, 1833, „Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab“, 1835, „Judith und Holofernes“, 1849). In Aufbau und Konfiguration zeigen N.s Stücke die Eigenart der österr. Restaurationsdramatik: Nicht die Erfüllung klass., theoret. Formprinzipien, sondern die effektvolle Realisierbarkeit des dramat. Gegenstandes auf dem Theater ist das Ziel des Dichters. Daher wird von zumeist französ. Vorlagen ein fast schemat. Handlungsgerüst übernommen und mit Wr. Lokalkolorit erfüllt, innerhalb dessen sich die virtuose Komik der tragenden Rollen im Wortwitz der Dialoge, in Couplets und im Gebärdenreichtum entfaltet. Der eigentliche dramat. Vorgang ist von den zentralen Charakteren her konzipiert, die aus der Wr. Volkstheatertradition stammen, jedoch dem satir. Anliegen N.s entsprechend verändert werden. So entwickelt sich der Typ des Intriganten, eine bis in die röm. Komödie zurückreichende, handlungstreibende Rolle, zum Räsoneur, in dessen souverän wirkenden Reflexionen sich oft ein hoffnungsloser Pessimismus bei gleichzeitig scharfer Demaskierung der Illusionen ausdrückt. Dieser häufig von N. selbst dargestellte Rollentyp macht die aggressive Ironie als Schutzpanzer und Mittel zur Selbstverteidigung eines im Grunde gütigen, fast hilflosen Charakters deutlich (Titus Feuerfuchs, Schnoferl, Weinberl) und wird dadurch zum Spiegelbild von N.s eigener Persönlichkeit. In seinen Dramen zeigte sich N. als Überwinder der absterbenden Kultur und Geisteshaltung des Biedermeier. Die Vorstellung einer Theodizee erschien ihm sinnlos, dagegen wird der Mensch seiner Zeit selbst aufgerufen, der Welt in ihrer turbulenten Geschichtlichkeit einen neuen Sinn zu geben. Diese Überzeugung erklärte auch seine Reaktion auf das Scheitern der Revolution von 1848. Die anfangs zyn., auf der Bühne propagierte Ablehnung transzendenter wie bürgerlicher Ordnungen wandelte sich durch diese hist. Zäsur zur weisen Resignation, ja zum Aufruf an den einzelnen, sich in seiner Welt im Rahmen seiner Möglichkeiten einzurichten. Die bleibende Aktualität der meisten Stücke N.s liegt schließlich in ihrer auf überzeitlich Typ. reduzierbaren Thematik begründet. Aber auch die virtuose Verbindung subtiler Ironie, lebendiger Volkstümlichkeit und bewußter Sprachkunst in den durchwegs theatergerechten Stücken erweist sich als Fundus wirksamer literar. Anregungen.

Hauptrollen: Kaspar (C. M. v. Weber, Der Freischütz); Almaviva (W. A. Mozart, Die Hochzeit des Figaro); Papageno (ders., Die Zauberflöte); Just (G. E. Lessing, Minna v. Barnhelm); Fortunatus Wurzel (F. Raimund, Der Bauer als Millionär); etc. W.: Sämtliche Werke. Hist.-krit. Gesamtausgabe, hrsg. von F. Brukner und O. Rommel, 15 Bde., 1924–30; Ges. Werke, 12 Bde., hrsg. von V. Chiavacci und L. Ganghofer, 1890–91, 6 Bde., hrsg. von O. Rommel, 1948–49, 2. Aufl. 1962; Ausgewählte Werke, hrsg. von O. Rommel, 2 Tle., in: Bongs Goldene Klassiker Bibl., o. J., hrsg. von F. H. Mautner, 1938; Komödien, hrsg. von F. H. Mautner, mit einer Einführung des Hrsg., 3 Bde., 1970; Ges. Briefe, hrsg. von F. Brukner, 1938.
L.: Die Fackel, Bd. 18, 1970, S. 1 ff., Bd. 30, 1972, S. 1 ff.; Wirkendes Wort 18, 1968, S. 232 ff. (N.-Forschung 1901–66); Maske und Kothurn 18, 1972, S. 23 ff.; J. Hüttner, Wr. N.-Aufführungen vom Tode des Autors bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, phil. Diss. Wien, 1964; Ch. Kuhn, Witz und Weltanschauung in N.s Auftrittsmonologen, phil. Diss. Zürich, 1966; O. Basil, J. N. in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, in: Rowohlts Monographien 132, 1967; S. Brill, Die Komödie der Sprache. Untersuchungen zum Werke J. N.s, in: Erlanger Beitrr. zur Sprach- und Kunstwiss., Bd. 28, 1967; G. Boege, N. als Bearb., 1967; K. Gladt, Die Hss. J. N.s, 1967; A. Hillach, Die Dramatisierung des kom. Dialogs. Figur und Rolle bei N., 1967; F. Kreissler, Das Französ. bei Raimund und N., 1967; H. Weigel, J. N., in: Friedrichs Dramatiker des Welttheaters, Bd. 27, 1967; R. Preisner, J. Nep. N. Der Schöpfer der trag. Posse, 1968; K. Roth, N.s dramat. Technik, 1968; S. Diehl, Zauberei und Satire im Frühwerk N.s, 1969; W. Preisendanz, N.s kom. Theater, in: Das dt. Lustspiel, hrsg. von H. Steffen, Bd. 2, 1969; K. Boeckmann, Untersuchungen zu den Elementen des Kom. im Werk N.s, 1970; Études germaniques 25, 1970, S. 69 ff.; J. Hein, Spiel und Satire in der Komödie J. N.s, 1970; K. Kahl, J. N. oder Der wiener. Shakespeare, 1970; W. E. Yates, N. Satire and Parody in Viennese Popular Comedy, 1972; F. H. Mautner, Geld, N. und N.-Interpretation, in: Theater und Ges., 1973, S. 121 ff.; L. V. Harding, The Dramatic Art of F. Raimund and J. N., in: Studies in German Literature, Bd. 3. 1974; F. H. Mautner, N., 1975; Wurzbach; M. Enzinger, Die Entwicklung des Wr. Theaters vom 16. zum 19. Jh., 2 Bde., in: Schriften der Ges. für Theatergeschichte, Bd. 28–29, 1918–19, s. Reg.; R. Bauer, La réalité royaume de dieu, 1965, s. Reg.; F. Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 1, 1971, s. Reg.; R. Urbach, Die Wr. Komödie und ihr Publikum, 1973.
(R. Pichl)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 7 (Lfg. 31, 1976), S. 73ff.
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