Rilke, Rainer Maria; eigentlich René (1875-1926), Schriftsteller

Rilke Rainer (eigentlich René) Maria, Schriftsteller. * Prag, 4. 12. 1875; † Montreux-Territet, Kt.Waadt (Schweiz), 29. 12. 1926. Sohn des Bahnbeamten Josef R., der seinen unerfüllten militär. Ehrgeiz auf ihn zu übertragen suchte, und der Kaufmannstochter Sophie, geb. Entz, die in ihm Ersatz für eine verstorbene Tochter sah und konventionelle Frömmigkeit mit schöngeistigen Interessen verband. Wegen Trennung der Eltern mußte R. die Militärrealschulen in St. Pölten und Mähr. Weißkirchen (Hranice) besuchen, ehe ihm – nach einem Intermezzo an der Handelsakad. Linz – ein Onkel die Privatistenmatura (1895) ermöglichte. R., der bereits 1894 mit der Publ. eigener Ged.Bde. („Leben und Lieder“) und 1896 mit dramat. Versuchen begonnen hatte, hörte 1895 literatur- und kunstgeschichtliche Vorlesungen an der Univ. Prag, ab 1896 setzte er seine Stud. in München fort. 1897 traf er mit der Schriftstellerin L. Andreas-Salomé zusammen, die ihm Mutter, Geliebte und Beraterin wurde. Ihr Einfluß ist im „Florenzer Tagebuch“ zu spüren; auch die mehrfach umgearbeitete „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ entstammt der Zeit, die R. mit ihr in Berlin-Schmargendorf verlebte (1898–1900). Auch brachte sie R. auf einer Reise, 1899, auf der auch Tolstoj besucht wurde, Rußland nahe. Aus dem Erlebnis russ. Volksfrömmigkeit erwuchsen in wiederholten Anläufen (1899, 1901, 1903) die Verse des „Stunden-Buchs“ und einige der „Geschichten vom lieben Gott“. Bereits 1898 hatte R. den Maler Vogeler kennengelernt; nach einer zweiten Rußlandreise, 1900, suchte er ihn für längere Zeit in Worpswede auf, das ihm stimmungsmäßig viele Anregungen zum „Buch der Bilder“ bot. Die dortige Künstlerkolonie, der er 1903 die Monographie „Worpswede“ widmete, vertrat teils einen pleinairist. Impressionismus, teils einen symbolisierenden Jugendstil und entsprach so weitgehend der eigenen Stilunsicherheit des Dichters. Zur finanziellen Sicherung seiner 1901 geschlossenen Ehe mit der Bildhauerin C. Westhoff arbeitete R. als Kunstkritiker; 1902 begab er sich nach Paris, um über Rodin zu schreiben, der für R. in der den Dichter bedrückenden Stadt zum Vaterersatz wurde (1905 inoffizieller Sekretär und Hausgenosse Rodins in Meudon). Erst durch die Lösung von Rodin, 1906, wurde R. ganz frei für die Arbeit an den beiden Bde. der „Neuen Gedichte“. In diese ersten Pariser Jahre fallen u. a. Aufenthalte in Viareggio, 1903, und Rom, 1903/04, sowie ein Besuch Skandinaviens, 1904. 1907 empfing R. in Paris von der Cézanne-Ausst. den bleibenden Eindruck einer künstler. Verwirklichung durch ein dem Rodinschen verwandtes Arbeitsethos. In zwei „Requiem“-Dichtungen (für P. Becker-Modersohn und für W. Gf. v. Kalckreuth) formulierte R. 1909 neue Einsichten: An die Stelle des Glaubens an einen harmon. Zusammenklang von Leben und Kunst tritt das Bewußtsein der Feindschaft zwischenbeiden; die Leistung des Dichters erscheint ihm als ein Überstehen existentieller Bedrohung. Von Bedeutung wurde für R. nach der Unterstützung durch den Bankier v. d. Heydt bes. die Freundschaft des Philosophen Kassner sowie die Förderung durch den Verleger Kippenberg, der ihm ein jährliches Fixum aussetzte, wofür R. alle seine Bücher dem Insel-Verlag überließ. Nach Vollendung der „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, 1910, die als poetolog. Roman bezeichnet werden können, erfuhr der Dichter eine Schaffenskrise, die ihn mit dem Gedanken an einen bürgerlichen Beruf, zeitweise auch an eine Psychoanalyse, spielen ließ. Von einer Reise durch Nordafrika (1910/11) wurden nur die Eindrücke aus Ägypten später fruchtbar. Im Winter 1911/12 genoß R. die Gastfreundschaft der Fürstin M. v. Thurn und Taxis auf ihrem Schloß Duino bei Triest, wo er die ersten beiden der „Duineser Elegien“ schrieb, eines Zyklus, den er jedoch zunächst weder während eines längeren Aufenthalts in Venedig noch auf einer Spanienreise (1912/13) vollenden konnte; immerhin entstanden bis zum Spätherbst 1913 in Paris die 3. und 6. Elegie. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verließ R. Paris und lebte dann einige Zeit in einem stürm. Liebesverhältnis mit der Malerin L. Albert-Lasard meist in München (wo 1915 die 4. Elegie entstand), bis ihn ein Einberufungsbefehl nach Wien holte. Den Bemühungen seiner Freunde gelang es, R.s Freistellung zu erreichen. Wieder in München, verkehrte er in dem der Mystik zugeneigten Kreis um Bernus und hörte – wie schon 1915 – Vorträge des Mythologen Schuler. 1919 nahm R. eine Einladung zu Vortragsreisen in die Schweiz an, wo er freundschaftliche Förderung fand; bes. N. Wunderly-Volkart (Nike) schrieb der Dichter wesentlichen Anteil an der Wiedererweckung seines Schaffens zu. Eine enge und intensiv bewegte Herzensbeziehung knüpfte ihn an die Malerin B. Klossowska (Merline). Im Schloß Muzot, einem Wohnturm bei Sierre im Wallis, glückte die Vollendung des Zyklus der Duineser Elegien (Februar 1922). In dieser Zeit entstand auch neben dem „Brief des jungen Arbeiters“ der zweiteilige Zyklus der 55 „Sonette an Orpheus“. Sie erheben den thrak. Sänger zum Gott der Dichter, dem Diesseits und Jenseits eines sind, und handhaben die Sonettform noch freier als die „Neuen Gedichte“. Nach Abschluß der beiden Zyklen häuften sich Zeichen körperlicher Erschöpfung, die nicht sogleich als Krankheit erkannt wurden. Dennoch entstanden, bes. 1924 und 1925, Gruppen von Ged. in dt. und französ. Sprache. Bei einem halbjährigen Aufenthalt in Paris, 1925, wurden dem Dichter viele Anerkennungen zuteil; neben früheren Bekanntschaften war ihm in Frankreich nun bes. Valéry wichtig geworden. Sein Leiden verschlimmerte sich jedoch und konnte auch durch mehrfache Sanatoriumsaufenthalte (ab 1923) nicht aufgehalten werden. R.s lyr. Technik zeigt ein stark ausgeprägtes Wechselspiel zwischen Metrum und Rhythmus, das in einem oft weitgespannten syntakt. Rahmen zu auffallenden Enjambements und ungewöhnlichen Reimwörtern führt; ihre Klangeffekte werden erst allmählich funktionell. Sein Werk bietet den einzigartigen Fall einer Entwicklung von provinzieller Konventionalität zur selbständigen Ausprägung des europ. Symbolismus. Ähnlich Mallarmé versteht der späte R. das Werk als ein Zusammenwirken inspirativer Kräfte mit eigenem Bemühen. Der nie ganz verleugnete Platonismus bildet einen Widerspruch zum bewußten „Machen“ des Ged. Diese Spannung, die ihr Gegenstück in der zwischen dem Transitor. der Sprache und dem erstrebten Sein des Kunstwerks hat, sowie die Überzeugung von der Gewinnung einer neuen sprachlichen Wirklichkeit aus dem Schweigen sind wesentliche Kennzeichen einer Modernität, die auch bei jüngeren Autoren unverkennbar ist.

W.: Briefe . . ., hrsg. von R. Sieber-Rilke und C. Sieber, 6 Bde., 1929–37; Briefe, 2 Bde., hrsg. von K. Altheim, 1950, Neuaufl., 1 Bd., 1966; R. M. R. und M. v. Thurn und Taxis, Briefwechsel, 2 Bde., hrsg. von E. Zinn, (1951); R. M. R. – L. Andreas-Salomé, Briefwechsel, hrsg. von E. Pfeiffer, (1952), Neuausg. 1975; R. M. R. – K. Kippenberg, Briefwechsel, hrsg. von B. v. Bomhard, 1954; R. M. R. et Merline, Correspondance 1920–26, hrsg. von D. Bassermann, (1954); Sämtliche Werke, hrsg. von E. Zinn, 6 Bde., 1955–66; Briefe an S. Nádherný v. Borutin, hrsg. von B. Blume, (1973); Übertragungen, hrsg. von E. Zinn und K. Wais, 1975; R. M. R. – H. v. Nostitz, Briefwechsel, hrsg. von O. v. Nostitz, 1976; Die Briefe an Gfn. Sizzo, hrsg. von I. Schnack, Neuausg. 1977; Briefe an N. Wunderly-Volkart, 2 Bde., hrsg. von R. Luck, 1977; H. v. Hofmannsthal – R. M. R., Briefwechsel 1899–1925, hrsg. von R. Hirsch und I. Schnack, 1978; Briefe an A. Juncker, hrsg. von R. Scharffenberg, 1979; R. M. R.-A. Forrer, Briefwechsel, hrsg. von M. Kerényi, 1982; etc.
L.: W. Ritzer, R. M. R. Bibliographie, 1951; P. Demetz, René R.s. Prager Jahre, (1953); E. Simenauer, R. M. R. Legende und Mythos, 1953; J.-F. Angelloz. R. M. R. Leben und Werk, (1955); E. Buddeberg, R. M. R. Eine innere Biographie, 1955; O. F. Bollnow, R., 2. Aufl. (1956); A. Robinet de Clery, R. M. R. Sa vie, son œuvre, sa pensée, 1958; Ch. Dedeyan, R. et la France, 4 Bde., 1961–63; J. Steiner, R. s Duineser Elegien, 2. Aufl. 1969; R. in neuer Sicht, hrsg. von K. Hamburger, 1971; U. Fülleborn, Das Strukturproblem der späten Lyrik R.s ( = Probleme der Dichtung 4), 2. Aufl. 1973; H. Himmel. Das unsichtbare Spiegelbild. Stud. zur Kunst und Sprachauffassung R. M. R.s ( = Centro studi „Rainer Maria Rilke e il suo tempo“ 3), (1975); J. Schnack, R. M. R. Chronik seines Lebens und seines Werks, 2 Bde., (1975): J. W. Storck, R. M. R. 1875–1975 ( = Kat. zur Sonderausst. im Schiller-Nationalmus. 26), 1975; J. R. Bartlett, Word Index to R. M. R. s German Lyric Poetry. 2 Bde. (3Tle.), 1976; W. Simon, Verzeichnis der Hochschulschriften über R. M. R., 1978; A. Stahl, R. – Kommentar zum lyr. Werk, 2 Bde., (1978–79); W. Leppmann, R. Sein Leben, seine Welt, sein Werk, 1981; H. W. Panthel, Materialien zu R. M. R.s Tod ( – Abhh. zur Kunst-, Musik- und Literaturwiss. 329), 1982.
(H. Himmel)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 9 (Lfg. 42, 1985), S. 164ff.
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