Nádherný (Nádherná) von Borutín, Sidonie (Zdenka) Freiin; verehel. Gfn. von Thun und Hohenstein (1885–1950), Salonière

Nádherný (Nádherná) von Borutín Sidonie (Zdenka) Freiin, verheiratete Gräfin von Thun und Hohenstein, Salonière. Geb. Janowitz, Böhmen (Vrchotovy Janovice, CZ), 1. 12. 1885; gest. London Harefield (GB), 30. 9. 1950 (begraben: seit 1999 Schlosspark Vrchotovy Janovice). Tochter von Karl Ritter Nádherný von Borutín (1849–1895) und Amalie (Amélie), geb. Freiin Klein von Wisenberg (1854–1910), Schwester von Johannes Freiherr Nádherný von Borutín (1884–1913), dem zeitweiligen Verwalter der Familiengüter, und von Zwillingsbruder Karl (Charlie) Freiherr Nádherný von Borutín (1885–1931), Jurist und späterem Verwalter der Güter; 1920–33 verheiratet mit Max Graf von Thun und Hohenstein, von dem sie bereits wenige Monate nach der Hochzeit getrennt lebte. – N. erhielt privaten Unterricht durch Gouvernanten und interessierte sich für Literatur und Musik. Von Jugend an pflegte sie zahlreiche Kontakte mit Gleichgesinnten – ab ca. 1896 mit der Musikerin und Komponistin Dora Gräfin Pejacsevich, ab 1904 mit dem Maler Max Švabinský, der sie mehrmals porträtierte. Oft reiste sie, begleitet von ihrer Mutter, nach Italien (u. a. 1908, 1909, 1910), Frankreich, in die Niederlande und nach Belgien. 1906 traf N. →Rainer Maria Rilke, den damaligen Sekretär von Auguste Rodin, der sie durch dessen Atelier führte, 1907 erfolgte Rilkes erster Besuch in Janowitz, und 1913 stand N. Rilkes Frau, der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff, Modell. Mit Rilke blieb N. bis zu seinem Tod im Briefwechsel. Nach dem Freitod ihres Lieblingsbruders Johannes begegnete sie in Wien auf Vermittlung von Thun und Hohenstein im September jenes Jahres →Karl Kraus, für den sie bis zu seinem Lebensende eine leidenschaftliche, von mehreren Phasen der Entfremdung gekennzeichnete Zuneigung empfand. Zu jener Zeit lernte sie Persönlichkeiten aus dem Umfeld von Kraus – wie →Adolf Loos und →Franz Werfel – kennen, besuchte die Künstlerkolonie Hellerau bei Dresden und traf 1915 den Verleger und Schriftsteller Ludwig von Ficker. Im selben Jahr entschloss sich N. – auch auf Druck der Familie – zur standesgemäßen Heirat mit dem florentinischen Grafen Carlo Guidiccardini; zur Heirat kam es jedoch angeblich wegen des Kriegseintritts Italiens nicht mehr. 1915–18 reiste sie mit Kraus oftmals in die Schweiz und befreundete sich auch mit der Mäzenin Mary Gräfin Dobřenský-Wenckheim und der Schriftstellerin und Komponistin Mechtilde Lichnowsky. Nach der Gründung der Tschechoslowakei wurde N.s Familienbesitz durch die Bodenreform und damit zusammenhängende finanzielle Probleme erheblich getroffen. Zu ihrem Freundeskreis gehörte seit den 1920er-Jahren auch der Jurist und Diplomat Max Fürst von Lobkowitz samt Familie, der mit anderen Gästen häufig auf Schloss Janowitz verweilte, das N. nach dem Tod ihres Bruders Karl mit Hilfe von Herbert Graf Schaffgotsch verwaltete. In dieser Zeit arbeitete Kraus immer wieder viele Wochen an seinen Manuskripten in Janowitz, wo N. nach dessen Tod weiterhin ein zurückgezogenes Leben führte. 1944/45 wurde N. – trotz Unterstützung durch den Denkmalpfleger und Kunsthistoriker Václav Wagner – gezwungen, das Schloss, das Teil des SS-Truppenübungsplatzes Böhmen geworden war, zu verlassen und ins nahegelegene Voračice zu ziehen. Nach dem Krieg wurden Schloss und Park von der Roten Armee und der einheimischen Bevölkerung geplündert. N. lebte im sogenannten Waschhaus und versuchte, auch mit Hilfe des aus der englischen Emigration zurückgekehrten Lobkowitz, das Schloss zu renovieren und die Familienliegenschaften zu verwalten. Die Ermittlung gegen sie wegen angeblicher aktiver Unterstützung der Okkupationsmacht wurde eingestellt. N.s finanzielle wie private Ausweglosigkeit verschärfte sich durch die Machtübernahme der Kommunistischen Partei im Februar 1948 weiter. Nach der Emigration ihres Gönners Lobkowitz verließ sie die Tschechoslowakei über die grüne Grenze im September 1949 nach Deutschland und weiter nach London. Kurz davor hatte sie die Sammlungen und das Schlossmobiliar dem Museum in Pacov übereignet, der Rest ihres Besitzes wurde beschlagnahmt. In England traf sie Mary Dobřenský-Wenckheim und Mechtilde Lichnowsky wieder, starb jedoch schon ein Jahr nach der Emigration. Ihre charismatische Persönlichkeit inspirierte u. a. Kraus („Wiese im Park. Gedichte an Sidonie Nádherný“, ed. Friedrich Pfäfflin, 2004) und Ondřej Fibich („Upoutat mračna“, 2016). 1898 wurde sie gemeinsam mit ihren Brüdern in den Freiherrenstand erhoben.

W.: Chronik über Vrchotovy Janovice, ed. F. Pfäfflin, 1995.
L.: J. Tywoniak, in: Středočeský sborník historický 8, 1973, S. 239ff.; J. Tywoniak, Janovický zámek v kulturních dějinách, 1994; L. Sršeň, in: Sborník Národního muzea, řada C – literární historie 41, 1996, S. 1ff.; O. Janka, N. S., 1998; A. Bláhová – F. Pfäfflin, K. Kraus ve Vrchotových Janovicích / K. Kraus in Janowitz, 2000 (mit Bild); K. Kraus – S. N. Z mezinárodního sympozia Návrat domů – Rückkehr nach Janowitz, ed. M. Masáková – O. Mohyla, 2000; R. Sak – Z. Bezecný, Dáma z rajského ostrova: S. N. a její svět, 2000; Z. Bezecný, Sborník prací východočeských archivů, 2000, S. 174ff.; Ch. Wagenknecht, Brücken nach Prag, 2000, S. 221ff.; R. Sak u. a., S. N. z Borutína a její přátelé, 2001; E. Lorenz, „Sei Ich ihr, sei mein Bote“. Der Briefwechsel zwischen S. N. und A. Bloch, 2002; A. Wagnerová, Das Leben der S. N., 2003; A. Wagnerová – J. W. Storck, in: K. Kraus. Jičínský rodák a světoobčan / In Jičín geboren, in der Welt zu Hause, 2004, S. 163ff., 181ff.; K. Kraus, Briefe an S. N. v. B. 1913–36, ed. F. Pfäfflin, 2005; K. Krolop, Die Hörerin als Sprecherin: S. N. und „ihre Sprachlehre“, 2005; R. M. Rilke – S. N. v. B., Briefwechsel 1906–26, ed. J. W. Storck u. a., 2007; I. Mrázková, in: Souvislosti 19, 2008, Nr. 4, S. 115ff.; H. Turková, Knihy a dějiny, 2012, Sondernr., S. 20ff.; J. Žák, S. N. píše svému nadlesnímu, 2014; Gartenschönheit oder Die Zerstörung von Mitteleuropa. S. N. Briefe an V. Wagner 1942–49, ed. F. Pfäfflin – A. Wagnerová, 2015; Státní okresní archiv Benešov, CZ.
(V. Petrbok)   
Zuletzt aktualisiert: 15.12.2020  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 9 (15.12.2020)