Hartel, Wilhelm Ritter von (1839–1907), Altphilologe, Wissenschaftsorganisator und Minister

Hartel Wilhelm Ritter von, Altphilologe, Wissenschaftsorganisator und Minister. Geb. Hof, Mähren (Dvorce, CZ), 28. 5. 1839; gest. Wien, 14. 1. 1907. Sohn des Webermeisters und späteren städtischen Beamten Johann Hartel und dessen Gattin Josepha Hartel, geb. Effinger. – H. besuchte das Kleinseitner Gymnasium in Prag und studierte ab 1859 klassische Philologie an der Universität Wien, wo er 1864 promovierte und sich bereits 1866 mit der Arbeit „Kritische Beiträge zu Livius“ habilitierte. In den 1870er-Jahren publizierte er umfassende innovative Studien auf dem Gebiet der Gräzistik, wobei seine Ergebnisse zu Demosthenes sogar bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff ausdrückliche Anerkennung fanden. Daneben vernachlässigte er keineswegs die Latinistik, die er in der Folgezeit immer mehr zum Schwerpunkt seiner Interessen machte. Besondere Verdienste erwarb er sich um das 1864 gegründete Wiener Kirchenvätercorpus (CSEL: Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum), sowohl als äußerst kompetenter Editor von Texten (Cyprian, Ennodius, Lucifer von Cagliari, Paulinus von Nola) als auch in seiner späteren Leitungsfunktion. 1869 wurde er ao., 1872 o. Professor für klassische Philologie. 1879 war er maßgeblich an der Gründung der Fachzeitschrift „Wiener Studien“ beteiligt. 1874/75 bekleidete er das Amt des Dekans, 1890/91 das des Rektors (in dieser Funktion auch Mitglied des Niederösterreichischen Landtags). In allen Phasen seines Wirkens zeigte H. ein intensives Engagement für das höhere Schulwesen Österreich-Ungarns, und 1893 gestaltete er die 42. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner als eine Demonstration des Zusammenwirkens von Wissenschaft und Schule. Ab 1875 war H. wirkliches Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, 1900–07 deren Vizepräsident und Initiator einer engen Kooperation mit deutschen Akademien, die 1899 zur Gründung der Internationalen Assoziation der Akademien führte. 1891 übernahm er die Leitung der Hofbibliothek, behielt seine Professur aber bis 1896, als er in das Ministerium für Cultus und Unterricht berufen wurde. Dort fungierte er zunächst als Sektionschef für den Bereich der Hoch- und Mittelschulen, ab 1899 als provisorischer Leiter und 1900–05 als Minister. Zu seinen größten Leistungen in dieser Funktion zählt der Neubau des Allgemeinen Krankenhauses. (Zeitgenössischer) Kunst und Literatur begegnete er mit großem Verständnis, wie seine Bemühungen um die Fakultätsbilder →Gustav Klimts und seine Unterstützung der Secession zeigen. Auch die Zulassung von Frauen zum Studium an der philosophischen Fakultät fällt in H.s Amtszeit. Die lang erwartete Verwaltungsreform gelang ihm dagegen nicht: Der vehemente Einfluss parteipolitischer Interessen und der zunehmende Konflikt der Nationalitäten brachte auch H. an die Grenzen seiner Möglichkeiten. →Karl Kraus begleitete das gesamte Wirken des Ministers H. in der „Fackel“ kontinuierlich mit einer in ihrer Schärfe schwer nachvollziehbaren Kritik. Ende 1906 hielt H. einen Vortrag über Wissenschaftsorganisation, ein für Jänner 1907 geplanter über Grillparzer und die Antike konnte nur noch gedruckt (im „Neuen Wiener Tagblatt“) erscheinen. H. wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. erhielt er den Orden der Eisernen Krone III. (1882) bzw. II. Klasse (1897). Seine Nobilitierung erfolgte 1882. Ab 1891 war er Mitglied des Herrenhauses auf Lebenszeit.

Weitere W. (s. auch Engelbrecht): Untersuchungen über die Entstehung der Odyssee 1–2, in: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien, 1864/65; Homerische Studien 1–3, in: Sbb. Wien, phil.-hist. Kl. 68, 1871, 76, 1874, 78, 1874; Demosthenische Studien 1–2, ebd., 87–88, 1877–78; Studien über attisches Staatsrecht und Urkundenwesen 1–3, ebd., 90–92, 1878–79; Kritische Versuche zur fünften Dekade des Livius, 1888; Patristische Studien 1–6, in: Sbb. Wien, phil.-hist. Kl. 120, 121, 132, 1890–95; Die Wiener Genesis, 1895 (gem. mit F. Wickhoff); Die internationale Assoziation der Akademien, in: Dt. Revue 31/3, 1906; Organisation der wissenschaftlichen Arbeit, in: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 58, 1907. – Ed.: Eutrop, Breviarium, 1872.
L.: Adlgasser; Almanach Wien 57, 1907, S. 347ff. (mit Bild); Inauguration Univ. Wien 1907/08, 1907, S. 38ff.; NDB; Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 58, 1907, S. 193ff.; Archiv für lateinische Lexikographie und Grammatik 15, 1908, S. 295f.; A. Engelbrecht, in: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde 31, 1908, S. 75ff. (mit W.); S. Frankfurter, W. v. H., 1912 (mit Bild); R. Meister, Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, 1947, bes. S. 114ff., 132ff.; Th. Mayerhofer, Der Lehrkörper der Philosophischen Fakultät von 1848 bis 1873, phil. Diss. Wien, 1982, S. 83ff.; F. Römer – H. Schwabl, in: Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, ed. K. Acham, 5, 2003, S. 78ff. (mit Bild); F. Römer, in: Musarum Socius, 2011, S. 489ff.; ders. u. a., in: Reflexive Innensichten aus der Universität, ed. K. A. Fröschl u. a., 2015, S. 564ff.
(F. Römer)   
Zuletzt aktualisiert: 25.11.2016  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 5 (25.11.2016)
1. AUFLAGE: ÖBL 1815-1950, Bd. 2 (Lfg. 7, 1958), S. 192
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