Kraus, Karl (1874-1936), Schriftsteller

Kraus Karl, Schriftsteller. * Jičin (Jičín, Böhmen), 28. 4. 1874; † Wien, 12. 6. 1936. Sohn eines jüd. Papierfabrikanten; lebte ab 1877 in Wien. Schon im Gymn. versuchte er sich als Schauspieler und Publizist. Seit der ersten öffentlichen Vorlesung (bald nach der Matura 1892), in der er für die modernen Naturalisten eintrat, Freundschaft mit Detlev Frh. v. Liliencron. 1893 inskribierte er Jus, wechselte dann auf die philosoph. Fak., ohne sein Stud. abzuschließen. 1896 erschien seine erste größere Satire gegen das literar. Cliquenwesen. 1898 Chronist der „Wage“. Eine angebotene Stelle bei der „Neuen Freien Presse“, bei der er schon gelegentlich mitgearbeitet hatte, lehnte er trotz Anratens M. Hardens ab und gründete seine eigene Z. „Die Fackel“, die vom 1. 4. 1899 bis Juli 1904 regelmäßig, nachher bis zu seinem Tode in zwangloser Folge erschien. Bis 1911 hatte die „Fackel“ noch Mitarbeiter, seither schrieb er sie allein und verzichtete auf Inserate. Von Anfang an wandte er sich gegen Presse und Liberalismus, welche die Korruption fördern. Beschimpft und „totgeschwiegen“, brach er mit seinem bisherigen Milieu, trat im Oktober 1899 aus der israelit. Kultusgemeinde aus. 1901 — nach einem verlorenen Prozeß gegen H. Bahr (s. d.) und nach der Beleidigung der jungverstorbenen, von ihm geliebten Schauspielerin Annie Kalmar durch die Presse — wandte er sich Problemen der Trennung der öffentlichen und der intimen Sphäre des Menschen und der von Kunst und Information zu. Das künstler. Moment wurde betont, die „Fackel“ trat für verkannte Schriftsteller ein (P. Altenberg, s.d., F. Wedekind, O. Stoessl, E. Lasker-Schüler etc.). 1905 veranstaltete er die Uraufführung der „Büchse der Pandora“ Wedekinds in Wien. 1906 die ersten Aphorismen, dann folgten „Glossen“, eine eigentümliche Verbindung von Zitat, Sprachkritik und Satire. Vor dem ungeistigen Fortschrittsglauben suchte er Rettung in der kath. Kirche (Taufe 1911, Pate Adolf Loos), verließ sie aber 1923, von ihrer Haltung im Ersten Weltkrieg enttäuscht. 1910 erste Vorlesung aus eigenen Werken in Berlin. Von nun an bis zu seinem Tode 700 Vorlesungen aus eigenen und fremden Werken, großenteils für wohltätige Zwecke. 1912 Freundschaft mit L. v. Ficker und dem „Brenner“-Kreis. 1913 Begegnung mit Sidonie Freifrau Nadherny v. Borutin und erste Gedichte. Im Ausbruch des Krieges 1914 sah er den Sieg des Geschäftsbetriebes über das Leben. Im Gegensatz zu den Kriegsliteraten verstummte er. 1915 nach vergeblichen Bemühungen, den Eintritt Italiens in den Krieg zu verhindern (Reise nach Rom), Bruch des Schweigens, Konfiskationen der „Fackel“. 1918 zog seine Vorlesung „Für Lammasch“ polizeiliche Verfolgungen nach sich. Nach dem Kriege, dem „Kopfsturz des konservativen Gedankens“, Wendung zur Demokratie. Wegen seiner intransigenten Haltung gegenüber den Extremisten wurde er von allen Seiten angegriffen. Seine Verteidigung der Sprache gegen die „Neutöner“ wurde mit Schmähschriften beantwortet. In Vorahnung des kommenden Krieges, dessen Ausmaß er prophet. voraussah, griff er dessen Wegbereiter an. 1925 wurde er von den Prof. der Sorbonne für den Nobelpreis vorgeschlagen. Der phantasietötenden Veräußerlichung des Theaterbetriebes stellt er seine Dramenvorlesungen (Theater der Dichtung) entgegen. Nach dem Versagen der Demokratie vor dem „Troglodytenaufstand, der das Opfer von zehn Millionen eines Weltkriegs zum Hohn machen wird“, trat er für Dollfuß (s. d.) ein. Als Hitler (s. d.) die Macht ergriff, schrieb er die „Dritte Walpurgisnacht“, verzichtete aber auf Veröff., da er Repressalien an Geiseln fürchtete. Seine Satire, in der Sprachkunst und Ethos, Sprache und Sache eins wurden, zeigte die Gefahren, welche die Menschheit als Ganzes bedrohen. Das „kleine Thema“ von dem er ausging, soll nur das große Übel sichtbar machen, die Personen stehen nur stellvertretend für den Typus. Mit derselben Leidenschaft, mit der er jede Korruption bekämpfte, setzte er sich für die geistigen Werte der Vergangenheit und Gegenwart ein. Als Kriterium seines Urteils diente ihm die Identität von Wort und Wesen. Seine Antithesen und Wortspiele enthüllten eine in der Sprache selbst verborgene Erkenntnis. Als Lyrik verstand er unmittelbare Wiedergabe des Erlebnisses, das bei ihm meistens ein Gedanke war. In seinen Essays und Aphorismen, zeitkrit. und prophet. Dramen, sogar in der kleinsten Glosse, ging es nicht um die einzelne Tatsache, noch werden bestimmte Personen als solche angegriffen, sondern der Unwert wurde bloßgestellt, nicht um ihn lächerlich zu machen, vielmehr um die Werte zu zeigen, die zum Ursprung, zur menschlichen Schöpfung führen.

W.: Die demolierte Literatur, 1897; Eine Krone für Zion, 1898; Die Fackel, n. 1–922, 1899–1936; Sittlichkeit und Kriminalität, 1908; Sprüche und Widersprüche, 1909; Die chines. Mauer, 1910; Pro domo et mundo, 1912; Worte in Versen, 9 Bde., 1916–30; Die letzten Tage der Menschheit, 1919; Weltgericht, 1919; Literatur oder Man wird doch da sehn, 1921; Untergang der Welt durch schwarze Magie, 1922; Traumstück, 1923; Wolkenkuckucksheim, 1923; Traumtheater, 1924; Epigramme, 1927; Die Unüberwindlichen, 1928; Literatur und Lüge, 1929; Zeitstrophen, 1931; Shakespeares Sonette, Nachdichtung, 1933; Die Sprache, 1937; Die dritte Walpurgisnacht, hrsg. von H. Fischer ( = Werke, Bd. 1), 1952; Hrsg.: F. Janowitz, Auf der Erde (Gedichte), Auswahl, 1919; P. Altenberg, Auswahl aus seinen Büchern, 1932, 2. Aufl. 1963; Bearb. von Werken Nestroys, Offenbachs und Shakespeares. Werke, hrsg. von H. Fischer, 16 Bde., 1952–67; etc. Briefe: an A. v. Berger, in: Silberboot 5/1, 1949; K. Wolff, Briefwechsel eines Verlegers, 1966; etc.
L.: R. Scheu, K. K., 1909; Th. Haecker, S. Kierkegaard und die Phil. der Innerlichkeit, 1913; Brenner 3/18–20, 1913; C. Dallago–L. v. Ficker–K. B. Heinrich, Stud. über K. K., 1913; L. Liegler, K. K. und die Sprache, 1918; Berliner Tagebl. vom 22. 1. 1920; A. Ehrenstein, K. K., 1920; L. Liegler, K. K. und sein Werk, 1920; B. Viertel, K. K. Ein Charakter und die Zeit, 1921; M. Rychner, K. K., 1924; Der Kampf 19, 1926; Anbrach 9/3, 1929; Revue d’Allemagne, 1929; National-Ztg. (Basel) vom 15. 2. 1931; Frankfurter Ztg. vom 10., 14., 16. und 18. 3. 1931; R. Schaukal, K. K. Versuch eines geistigen Bildnisses, 1933; H. Barbusse, B. Brecht, K. Čapek u. a., Stimmen über K. K. Zum 60. Geburtstag, 1934; H. Fischer, K. K. und die Jugend, 1934; Nagl–Zeidler–Castle, Bd. 3, 1934; Dreiundzwanzig, 1934, n. 28/30; Bulletin de la Société des Etudes Germaniques, 1935; G. Moenius, K. K. Der Zeitkämpfer sub specie aeterni, 1937; H. H. Hahnl, K. K. und das Theater, phil. Diss. Wien 1947; P. Engelmann, Dem Andenken an K. K., 1949; W. A. Iggers, K. K., a Viennese Critic, Diss. Chicago 1952; Lo spettatore Italiano 9/9, 1956; W. Kraft, K. K. Beitrr. zum Verständnis seines Werkes, 1956; P. Schick, Der Satiriker und der Tod, in: Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Wr. Stadtbibl., 1956; H. Arntzen, Exkurs über K. K., in: Dt. Literatur im 20. Jh., 1961; Neue Rundschau 72/4, 1961; Philologica Pragensia, 1961; W. Muschg, K. K., Die letzten Tage der Menschheit, in: Von Trakl zu Brecht, 1961; C. Kohn, K. K. Le polemiste et l’écrivain, défenseur des droits de l’individu, 1962; H. Kohn, K. K.–A. Schnitzler–O. Weininger, 1962; J. Stephan, Satire und Sprache. Zu dem Werk von K. K., 1962; F. Ebner, K. K., in: Schriften, Bd. 1, 1963; F. Jenaczek, Zeittafeln zur „Fackel“, 1965; P. Schick, K. K., 1965; Ch. J. Wagenknecht, Das Wortspiel bei K. K., 1965; etc. Vgl. O. Kerry, K. K.- Bibliographie, 1954.
(Schick)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 4 (Lfg. 18, 1968), S. 230ff.
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