Schmidl (Therese) Marianne, Ethnologin und Bibliothekarin. Geb. Berchtesgaden, Deutsches Reich (D), 3. 8. 1890; gest. Lager Izbica, Bełżec oder Sobibór, Generalgouvernement (PL), vermutlich 1942; evang. Tochter des Hof- und Gerichtsadvokaten Josef Bernhard Schmidl (1852–1916) und seiner Frau Marie (Maria) Schmidl, geb. Friedmann (1858–1934), einer Nachkommin der Künstlerbrüder Friedrich (1791–1851) und Ferdinand von Olivier (1785–1841). – S. wuchs in Wien auf, wechselte 1905 vom Lyzeum auf die Reformschule von →Eugenie Schwarzwald und legte 1910 in Graz die Matura ab. Im selben Jahr begann sie in Wien Mathematik u. a. bei →Gustav Kohn und →Wilhelm Wirtinger sowie theoretische Physik u. a. bei →Ernst Lecher, →Franz Exner, →Friedrich Hasenöhrl und Felix Ehrenhaft zu studieren, besuchte aber auch Vorlesungen in Ethik bei →Friedrich Jodl, Archäologie bei →Emil Reisch und Ethnographie bei →Michael Haberlandt. 1913 trat sie dem Verein für Österreichische Volkskunde bei, erwarb im Ötztal im Auftrag von Haberlandt für das Museum für österreichische Volkskunde Objekte, widmete sich der Erforschung von „Flachsbau und Flachsbereitung in Umhausen“ und konnte im selben Jahr einen gleichnamigen Artikel publizieren (Zeitschrift für Österreichische Volkskunde 19, 1913). 1913/14 absolvierte sie ein Volontariat am Volkskunde-Museum und studierte fortan Ethnologie im Hauptfach sowie Anthropologie und prähistorische Archäologie im Nebenfach bei Haberlandt, →Rudolf Pöch, →Moriz Hoernes, →Rudolf Much, →Oswald Menghin und →Eugen Oberhummer. 1914 wurde sie Mitglied der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. S.s Interesse an mathematischen Fragen begleitete sie künftig bei ihren völkerkundlichen Studien. Sie promovierte als erste Frau in Österreich in Völkerkunde mit ihrer Schrift „Zahlen und Zählen in Afrika“ (Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 45, 1915). Die Arbeit wurde sehr positiv rezensiert und gilt als eine Pionierarbeit im Bereich der Ethnomathematik. S. beleuchtete anhand von Beispielen aus Afrika, dass auch mathematische Konzepte in ihrer Gestaltung und Entwicklung nicht universal sind, sondern je nach Umgebung und kulturellem Kontext erheblich variieren können. Nach dem Rigorosum 1916 wurde sie wissenschaftliche Hilfsarbeiterin an der Afrikanischen Abteilung des Berliner Museums für Völkerkunde unter Bernhard Ankermann und trat der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte bei. Auf Ankermanns Anregung begann sie mit einer kulturhistorischen Studie über afrikanische Körbe. Seit 1917 Assistentin in der Afrikanischen Abteilung des Linden-Museums in Stuttgart unter Theodor Koch-Grünberg, musste S. ihren Dienst 1920 aufgrund der prekären Lage des Museums beenden. Nach einer zweimonatigen Vertretungsstelle am Museum für Kunst und Kunstgewerbe in Weimar wurde sie 1921 an der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien zunächst als Hospitantin und schließlich ab 1924 im Beamtenstatus als Bibliothekarin eingestellt. Ihr Zuständigkeitsbereich umfasste bis 1938 u. a. die Fächer Mathematik, Medizin, Naturwissenschaften, Ethnologie, Vor- und Urgeschichte. Daneben ging S. weiter ihren völkerkundlichen Studien nach. Pöch, 1921 verstorben, hatte die Österreichische Akademie der Wissenschaften testamentarisch dazu bestimmt, das Material seiner anthropologisch-ethnographischen Sammlung ausgebildeten Experten zur Verfügung zu stellen und hier u. a. S. genannt. Während die neu gebildete Pöch-Kommission auch im Testament nicht genannte Gelehrte mit der Bearbeitung des Nachlasses beauftragte, wurde S. hierfür nicht herangezogen. Ihrer Feldstudie 1924 in Bulgarien, in deren Verlauf sie erneut Exponate für das Volkskunde-Museum ankaufte, folgten zwei Publikationen: „Beiträge zur Kenntnis der Trachten von Südwestbulgarien“ (in: Festschrift für Michael Haberlandt, 1925) und „Volkskundliche Studien in der Ebene von Sofia“ (in: Festschrift der Nationalbibliothek in Wien, 1926). 1926 sagte Fritz Krause, Interims-Direktor des Staatlich-Sächsischen Forschungsinstituts für Völkerkunde in Leipzig, S. ohne Fristsetzung Subventionen für ihre Studie über afrikanische Körbe zu, die sie in der Folge in westeuropäischen Museen fortführte. Ein Zwischenergebnis, „Altägyptische Techniken an afrikanischen Spiralwulstkörben“, erschien in der „Festschrift Publication d’hommage offerte au P. W. Schmidt“ 1928. 1929 wurde S. Mitglied der neu gegründeten Gesellschaft für Völkerkunde. In Wien zählte sie von Beginn an zur Wiener Arbeitsgemeinschaft für Afrikanische Kulturgeschichte. In Abgrenzung zur Wiener Kulturkreislehre sollten Kulturen als etwas Dynamisches verstanden und die afrikanische Kulturgeschichte im Detail erforscht werden. S. selbst löste sich zunehmend von der damals gängigen Hamiten-Theorie und dichotomen Kategorisierungen und zeigte die Wechselseitigkeit kultureller Beeinflussung auf. In diesem Kontext entstanden ihre Beiträge „Mondkönige in Ostafrika“ (in: Congrès de l’Institut International des Langues et de Civilisations Africaines …, 1933) und „Die Grundlagen der Nilotenkultur“ (in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 65, 1935). S. wollte die Geschichte jeder afrikanischen Gesellschaft erfassen – ein kaum zu bewältigendes Vorhaben – und diese ihrer Korbstudie zugrunde legen. Über Jahre hinweg drängte Otto Reche, Nachfolger von Krause in der Leitung des bis 1936 bestehenden Leipziger Forschungsinstituts, S. zur Fertigstellung ihrer Studie. 1938 wurde sie aufgrund der Nürnberger Gesetze aus dem Bibliotheksdienst entlassen. Als sie den Forderungen Reches, das erhaltene Stipendium zurückzuzahlen, nicht nachkommen konnte, musste sie schließlich ihr unvollendetes Manuskript nach Leipzig schicken. Sie wurde im April 1942 nach Izbica deportiert. 2017 wurde S. mit einem Gedenkstein vor ihrem ehemaligen Wohnhaus in Wien-Döbling gewürdigt.